Es regnet. Bei Regen herrscht hier in Sevilla Ausnahmezustand. Alarmstufe Rot, die Sevillanos führen sich auf, als wären sie aus Zucker. Aber das nehme ich ihnen nicht ab. Auf meinem täglichen Weg liegt eine Schule, die Regenschirmparade davor ist beachtlich, nicht nur die wartenden Mütter haben sich mit Regenschirmen gegen die Unbill des Wetters bewaffnet, nein, auch jedes einzelne Kind hat seinen eigenen kindgerechten Regenschirm. Als Kind hatte ich immer Regenjacken, gerade in der Grundschule, ich hätte auch keinen Regenschirm gewollt, der hätte mich doch eingeschränkt. Aber nee, die Kinder hier haben alle Regenschirme.
Die Regenschirme unterscheiden die Kinder, lassen sie individuell erscheinen. Das heißt, einerseits gibt es Schirme in jeder erdenklichen Farbe und mit allen bekannten und unbekannten Comic-Helden unserer Zeit zu bestaunen. Andererseits wird die Schuluniform nicht verdeckt, gerade bei den Mädels scheint das wichtig zu sein.
Die spanischen Mädels bekommen einmal bei der Einschulung einen Rock als Teil der Schuluniform und der wird bis zum Abschluss getragen. Es erscheint mir unvorstellbar, dass dieser einmal gegen einen anderen größeren getauscht wird, denn je älter die Mädchen werden, desto kürzer werden die Röcke. So reicht der Rock der Schuluniform eines fünf oder 6 jährigen Mädchens bis zum Knie und bei den 15-jährigen verdeckt er nix mehr. Sie führen sich auf wie Lolita, reizen mit ihren Reizen. Und lasst euch nicht täuschen, sie tun das durchaus bewusst.
Dieser Lolita-Kult ist schon erstaunlich. Wie konnte es dazu kommen. Spanien hat eine recht starke katholische Tradition. Dazu kommt, dass die Menschen lange Jahre unter einer Diktatur lebten, diese endete zwar Mitte der 1970er Jahre mit dem natürlichen Tod des Diktators. In vielen europäischen Ländern ist die Tradition der Schuluniform nach dem 2. Weltkrieg abgeschafft worden. Es kommt zwar immer wieder zu Diskussionen über das Für und Wider von Schuluniformen, aber meist wird zu Gunsten der Individualität entschieden. Aber was passiert, wenn über Generationen hinweg der Uniform gehuldigt wird? Uniformen sind in Spanien allgegenwärtig.
Es gibt kaum einen Beruf, in dem die Angestellten keine Uniformen tragen. Dabei muss durchaus zwischen uniformer Arbeitskleidung und der Uniform unterschieden werden. Aber der gemeine Baustellenarbeiter trägt, klar Arbeitskleidung, er hat nicht wie der Postbote oder Müllkutscher eine vorgeschriebene Kleidungsordnung. Gut, die Postboten sind mal wieder eine Ausnahme, aber die können auch nicht lesen. Sie haben zwar Uniformen, tragen sie aber nicht zwangsläufig.
Es steht außer Frage, dass eine Uniform Vorteile hat, aber sie hat auch Nachteile. Dank der Uniform soll eine Gleichheit zwischen den Schülern zum Beispiel hergestellt werden. An der jeweiligen Schule mag das auch funktionieren, aber die Uniform zeigt auch klar und deutlich Unterschiede, nämlich, welche Schule ein Kind besucht. Dieser Unterschied der Schule manifestiert den wirtschaftlichen und soziokulturellen Hintergrund einer Familie im Vergleich zur nächsten.
Lolita nutzt ihre Schuluniform, um ihrem Körper ein mädchenhaftes Auftreten zu geben. Sie kennt den Reiz der Unschuld genau und nutzt ihn aus. Sie reizt ihr Gegenüber. Entzieht sie sich damit der Gesellschaft? Spielt sie mit deren Werten und Normen? Versucht sie die Grenzen des Anstandes in einer Art Rebellion zu durchbrechen? Oder ist sie nur eine heranwachsende Spanierin oder genauer, eine Andaluza?
Die Folgen ihres Handelns sind ihr vermutlich nicht wirklich bekannt, und auch wenn sie bekannt sein sollten, sind sie ihr nicht bewusst. Sie übernimmt für ihr Handeln keine Verantwortung. Denn in ihrer Unschuld testet sie ungeniert diverse Verkleidungen und Bilder, die ihr im Alltag begegnen. Sie ist noch ein Kind und will spielen. Ihre Uniform schützt sie vor der Verantwortung, die sie übernehmen müsste, indem sie ihr die Anonymität der Gruppe leiht. Der Regenschirm dient ihr als Accessoire, um eine weitere Verkleidung auszuprobieren.